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Zerrissene Schönheit des Lebens und der Liebe Accademia della Follia sorgt für fulminanten Start von madness & arts

Die Italiener kommen verrückt und gewaltig Deutschlandpremiere von ‚DIVERCITY@040' der Accademia della Follia aus Triest (I)

von Klaus Nelißen / Westfälische Nachrichten, 3.5.06

Exzentrisch, überschwänglich, aber vor allem eines ist die Liebe: verrückt. In DIVERCITY, einem fantastischen Ort, tanzen, singen und spielen die Menschen um ihr Leben und die Liebe. [...] Zum Auftakt des Treffens von Theatergruppen, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten, kamen derart viel Besucher, dass die Inszenierung aus dem Theater per Video ins nahe Festzelt übertragen werden musste. In Festspielatmosphäre präsentierte die italienische Gruppe um Sarah Taylor und Claudio Misculin die Performance DIVERCITY@040 auf allerhöchstem artistischem Niveau. Die spannungsgeladene Mischung aus expressivem Tanz, burlesken Dialogepisoden und melancholischen Liedvorträgen ging auf und riss das Publikum mehrmals zu Szenenapplaus von ihren Stühlen. Das virtuose Ensemble, bestehend aus 18 Männern und Frauen, acht professionellen Tänzern und zehn psychiatrieerfahrenen Darstellern, formierte sich immer wieder neu zu höchst eindrucksvoll inszenierten Bildern rund um die Zerrissenheit und den Wahnsinn der Liebe zwischen zwei Individuen. [...]

Was bedeutet es, vom Wahnsinn, von der Muse geküsst zu sein? Für Ensemblebegründer Claudio Misculin ist dies ein und dasselbe. „Man kann nicht Kunst machen, ohne den Verstand zu verlieren.“ Seit 30 Jahren hat er in über 200 Projekten immer wieder mit teilweise psychisch kranken Darstellern die Grenze zwischen Normalität und Krankheit ausgelotet. Diese Gratwanderung ist tief in die Inszenierung eingeflochten, und dennoch ist das, was die Accademia della Follia präsentiert, nicht eine zur Schau gestellte Therapieleistung. Vielmehr besticht diese Kunst durch ihre hoch individuelle künstlerische Expressivität. Wenn am Ende das Ensemble mitreißend „Life is a Cabaret“ schmettert, dann ist das das große Variéte, das aber anders als so manch seicht inszeniertes Boulevardstück um eine besondere Dimension reicher ist: den authentischen Ausdruck der zerrissenen Schönheit des Lebens [...]

Damenwahl im Tango des Lebens Weltfestival „madness & arts“: Bewegende Schicksals-Choreografie aus Prag

Schicksalstanz aus der goldenen Stadt ‚Vera, Marie,Tanci' von der Bohnice Theatre Company aus Prag (CZ)

von Gerhard H. Kock / Westfälische Nachrichten, 5.5.06

Molière starb auf der Bühne bei der Darbietung eines seiner Stücke. Ganz so spektakulär ging es bei der zweiten Inszenierung des „madness & arts worldfestivals“ im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen nicht zu. Lebensnäher konnte jedoch auch das Stück der Prager Bohnice Company, „Vera und Marie tanzen“, nicht sein. Wo sonst spielen die Protagonistinnen eines biografischen Stückes über ihr Leben gleich auch Hauptrollen? Die melancholische und auf ihre Art wortlose Inszenierung der 20-köpfigen Gruppe um Regisseur Martin Ucík und Dramaturgin Vendula Kodetová bewegte das Festivalpublikum.

Im Zentrum stehen die Greisinnen Vera Procková und Marie Zeitmannlová. Sie gehörten vor 15 Jahren zu den Gründungsmitgliedern der Prager Schauspieltruppe von Menschen, die Erfahrungen mit psychischen Extremsituationen gemacht haben. Beide lebten zu diesem Zeitpunkt in einer geschlossenen Anstalt und wurden über die vielen Jahre zusammengeschweißt in ihrer Schicksalsgemeinschaft. Das Spiel in der Theatergruppe gab ihrem Leben eine neue Wendung, eine erneute Öffnung zur Welt. Immer wieder unterhielten die beiden „Großmütter“ der Kompanie die Mitspieler in den Probepausen mit Anekdoten aus ihrem bewegten und „verrückten“ Leben. Diese Geschichten seien der Impuls für diese außergewöhnliche Hommage, erläutert die Stückeschreiberin Kodetová.

Die eingespielten tschechischen Tonaufnahmen mit Vera und Marias Erzählungen konstruieren das Kaleidoskop von gespielten und getanzten Szenen in einer düsteren, geradezu kafkaesken Stimmung. [...]

Während der 14 inszenierten Lebensbilder drängt sich zunehmend der beklemmende Eindruck auf, dass Vera und Marie in ihrem Leben immer wieder unter die Räder einer hektischen und verständnislosen Welt gekommen sind. Umso mehr geht es nahe zu sehen, wie den beiden wunderbar wunderlichen Damen mit diesem Stück ein besonderes Ohr für ihre Weitsicht und Weisheiten gegeben wurde.

Aber ich dreh mich nicht um Theater Sycorax zeigt begeisternde Uraufführung von „Am anderen Ende ist der Himmel“

Engel sind da, wo wir sie sehen Uraufführung von ‚Am anderen Ende ist der Himmel' von Theater Sycorax (D)

von Gerhard H. Kock / Westfälische Nachrichten, 5.5.06

Wem das nicht zu Herzen geht, der hat wohl keines. 13 Menschen ringen, rennen und reißen sich zusammen stellvertretend fürs Publikum. Denn wer in der westlichen Leistungsgesellschaft lebt, weiß um die Hetz und Hast des Lebens. Und in den wenigen stillen Minuten keimt ein kleiner Glaube auf: „Am anderen Ende ist der Himmel“. So heißt das neue Stück vom münsterischen Theater Sycorax, das im Rahmen des „madness & arts worldfestival II“ im Pumpenhaus seine begeisterte Uraufführung erlebte.

Die Regisseure Manfred Kerklau und Paula Artkamp halten der Ideologie der Leistungsgesellschaft einen präzisen, eine Stunde lang schillernden Spiegel vor, der auch die Tiefen der Seele zurückwirft. Dieser Spiegel schlägt die Zuschauer durch Worte und Bewegung in seinen Bann. Das karg kantige Bühnenbild umlauern Scheinwerfer von oben und den Seiten. Sie erzeugen ein Licht-Gitter (Volker Sippel) in dem hektische Lichtflecken die Erfolgskämpfer nerven. Die tragen Halbuniform: Die Köpfe formen Warhol blonde Pop-Perücken, der Körperrest ist in fast individuellem Business-Look gefasst (Bettina Zumdick).

Es werden euphorisierende Phrasen gedroschen: Ich befinde mich zu jeder Zeit vor allen meinen Möglichkeiten.“ „Wenn du funktionierst, funktioniert auch die Welt mit dir.“ Selbst für die Nebenwirkungen dieser wahnwitzigen Allmachtsgefühle und ideologisierten Freiheitsgedanken hält diese Gesellschaftsform Heilsversprechen bereit: „Die Tabletten erzeugen genau die Gefühle, die auf dem Beipackzettel beschrieben sind.“ Mit starken Laufbewegungen wird das Gehetzt- und Getrieben- Sein, der Druck von Leistungszwang und Verzweiflung auch im Zuschauerraum bedrohlich spürbar. In Wellen rennen die 13 gegen eine Mauer an. Vielleicht ist es auch ein Spiegel, den sie zu einem Gegenüber durchstoßen wollen. Es bleibt ein Chor der Atemlosen. Und einer stellt Fragen: „Es geht immer vorwärts. Ist das ein logisches Prinzip?“

In den stillen Momenten dieses Spiels ist es wie im wirklichen Leben: Es kommt eine Ahnung auf von einem Himmel, von einem Engel-Flügel-Rauschen. „Eine kleine Hoffnung habe ich noch, aber ich dreh mich nicht.“ Das Theater Sycorax zeigt ein starkes Stück Himmel, das zu Herzen geht.

Leidenswege von Mutter und Sohn
madness & arts: Isole Comprese Teatro aus Florenz erforscht geschundene Seele

Stellen Sie sich vor es gelänge, dem Leib einen Traum und dem Raum eine körperliche Gestalt zu verleihen: Deutschlandpremiere von ‚Corpo I Prologo' des Isole Comprese Teatro (I)

von Markus Küper / Westfälische Nachrichten, 6.5.06

[...] Bizarr und surreal sind die Traum-Bilder, mit denen das „Isole Comprese Teatro“, die Bruchstellen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit erkundet. Da gibt es die grausame Mutter, die ihr „Engelchen“ im Gitterbett mit großer Geste füttert - nur um den Löffel im letzten Moment sich selbst in den Mund zu schieben. Die in einer weiteren Traumsequenz auch schon mal zur hysterisch kichernden Furie im infernalischen Stroboskop- Gewitter verzerrt wird. Und den Vater, der das leblose Knochenbündel wie einen Säugling herzt.

So wahn-sinnig die Bilder, so assoziationsreich sind sie auch. Ihnen zu folgen, war nicht immer leicht. [...]

Seelische Spuren haben sie jedoch wohl bei jedem hinterlassen. Russen schmunzeln Schicksal entgegen
madness & arts: Absurde „Genesis Nr.2“

ein weißes Funkeln aus Russland ‚GENESIS Nr. 2' von Theatre.doc aus Moskau (RUS)

von Alexander Dragon / Westfälische Nachrichten, 6.5.06

Über allem schwebt der Geist von Beckett: Der Galgenhumor der Ausweglosigkeit, die unaufhörliche Wiederkehr des immer gleichen, die selbst der Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz einen Hintersinn vorgaukelt. Doch aller Hoffnung zum Trotz: das Leben hat nichts zu bieten, als Dummheit und Todessehnsucht. Gott selbst ist es, der die menschliche Sinnsuche verteufelt. Nur weil die Menschen an Gott glauben, ist es nicht gesagt, dass der an die Menschheit glaubt. Die „Genesis Nr. 2“ der russischen Avantgarde-Truppe „Theatre.doc“ entwirft ein schizophrenes Schöpfungsszenario einer gewalttätigen Welt, geboren aus Sodom und Gomorrha.

Diese Tour de force durch die Abgründe der Psyche ist mit biblischer Symbolik gespickt. [...] Die absurden Monologe der Autoren Antonina Welikanova und Iwan Wyrypajew lockern provokante russische Bajan-Songs ( Akkordeon: Aidar Gainullin) über Prostitution und Wodka getränkte Männerliebe auf, derweil der atheistische Gott versucht, den unbelehrbaren Gläubigen die letzten Illusionen zu rauben: „Seele ist ein schwacher Trost für schwache Menschen.“

Doch ist der derbe Text in der bewegenden Regie von Wiktor Ryschakow kein missmutiges Bekenntnis zum Fatalismus. [...]

Swetlana Iwanowa verwandelt die karge Bühne mit prophetischer Gestik und hoffnungsfrohem Flehen in einen Garten Eden. Anders als in der biblischen Vorlage lässt Gott ihre Rückschau auf die Lasterhaftigkeit der Welt zu. Statt das Weib zur Säule erstarren zu lassen, fällt er mit ein in den finalen Tanz, der die Bühne kübelweise mit Salz bestreut. In der funkelnd weißen Pracht endet die mitreißende Reise durchs moderne russische Theater. [...]

Dank Simultanübersetzung und Knopf im Ohr war den Texten problemlos zu folgen. Doch: „Weh dem, der Symbole sieht“ heißt es schon in Becketts Roman „Watt“.

Schuld und Sühne in ganzer Breite
madness & arts: Kanadier spielen „Vincent“

theatrales Profiling aus Kanada‚Vincent' vom Workman Theatre Project aus Toronto (CDN)

von Markus Küper / Westfälische Nachrichten, 8.5.06

[...] Eine Geschichte, die ebenso dramatisch beginnt, wie sie endet: mit einem tödlichen Schuss. Das Opfer: Vincent, ein schizophrener Junge. Der Täter: ein Polizist. Dazwischen: eine tragische, eine tränenreiche Geschichte, wie sie Hollywood-tauglicher kaum sein könnte erzählt von Vincents Hinterbliebenen: seinem Bruder, seiner trauernden Mutter und seinem „Mörder“. Dabei kommt das „Workman Theatre Project“, der kanadische Gastgeber des ersten „madness & arts“-Festivals in Toronto im Pumpenhaus fast ganz ohne Spiel aus. Allein der Scheinwerfer-Spot rückt die drei Darsteller aus dem Bühnendunkel in den Fokus, schneidet ihre Erzählungen zu einem Thriller der großen Emotionen. [...]

Figuren suchen Autor, der ihre Geschichte schreibt
madness & arts: Compagnie de l`Oiseau- Mouche erntet viel Beifall

Pirandello hätte seine helle Freude ‚Personnages' von der Compagnie de L'Oiseau-Mouche aus Roubaix (F)

von Markus Küper / Westfälische Nachrichten, 8.5.06

Sie wirbeln mächtig Staub auf, bombardieren die Bühne mit Kieselsteinchen und tanzen um ihr Leben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Schließlich sind die sechs „verrückten“ Kunstfiguren, die da so holterdiepolter in des hamletisierenden Schauspieldirektors saubere Theaterwelt platzen, die Rollen eines unfertigen Dramas. Für die Sarte-geschulte „Compagnie de l`Oiseau- Mouche“ ist Pirandellos absurde Sechspersonenautorsuche neben aller Tiefgründigkeit vor allem lebenssatte Poesie.

Schließlich ist dieses Sextett besessen von der fixen Idee, nur als dramatische Gestalten existieren zu können. Sein oder Nichtsein? Hier geht es um alles. In „Personnages“ wird mit Händen und Tanzfüßen erzählt, was nie geschrieben wurde, mit „sprechenden“ Choreografien der Ausbruch geprobt und bis zur Erschöpfung über die steinige Bühne geturnt. So anarchisch, das der verzweifelte, mit einigem Recht um die Zerstörung seiner heilen Theaterwelt besorgte Theaterdirektor sie am Ende gar mit dem Lasso einfangen muss.

Wo Sprache endet, fängt das Toben an. Und wo echte Leidenschaften sich so unbedingt Raum verschaffen, um vogelfrei zu werden, hört das Theater auf. Keine Frage: In diesem Theater geht es ums nackte (Über)Leben. Auch und gerade des Theaters selbst. [...]

Pirandellos Familientragödie aus Ehebruch, Selbstverrat und Schande - sie interessieren Frankreichs berühmtes integratives Theaterensemble nicht..... Ihre Adaption probt die Anarchie. Auf leise und sehr eigene Art und Weise. Hier geht es um Möglichkeiten, sich zu entfalten: ein Seiltanz über den vermeintlichen Lebensbrettern, ein traumtänzerischer Balanceakt auf der Wippe des Daseins, ein zartes, sich zum Hohngelächter steigerndes Ansingen gegen den Drill. So etwas verleiht Flügel. Der Vogelfänger ruft. Ende offen. Viel Applaus.

Wo das Blei schwimmt
madness & arts: Sering aus Belgien zeigte eine verkehrte Welt

siebenzwanzig mal zwei Welten Deutschlandpremiere von ‚Het verhaal van twee werelden' der Sering VZW aus Antwerpen (B)

von Alexander Dragon / Westfälische Nachrichten, 9.5.06

Die Menschen sind krank. Darüber können die rotgeschminkten Wangen nicht hinwegtäuschen. Aschfahl sind die Gesichter. Und quälender als die Störungen, die sich von zweifelhaften Ärzten mit zahlreichen Pillen lindern lassen, sind die Narben der Erinnerung. An eine Zeit, als die Menschen noch in Harmonie mit sich und der Natur lebten. Die Reise zu den Urwunden der Gesellschaft führt in dem Stück, das die belgische Truppe „Sering“ beim „madness & arts“-Festival aufführte, über persönliche Traumata. [...]

Karikaturenhaft überzeichnen die Regie von Mia Grijp und Inge Verheers die Figuren. [...] Hier in der verkehrten Welt, wo „Blei schwimmt und Federn sinken“.

Über allen Szenen wacht die schärfste Waffe der modernen Zivilisation: Wie ein Maschinengewehr feuert die Fernsehkamera in die unruhige Menge, die einen bedrückenden Tanz im gleichförmigen Takt des alltäglichen Chaos beginnt. In der gut 20köpfigen Truppe singen, spielen und tanzen Darsteller vom Kleinkind bis zum Greis. In diesem Modell einer generationenübergreifenden Theatergesellschaft liegen zugleich Wirkung und Sehnsucht des Stücks verborgen. So wirkt die abendliche Geschichtenrunde, in der weise Frauen ihr Wissen über die Anfänge der Welt quiltknüpfend an die in ihrer Mitte hockenden Kinder weitergeben, wie ein alle Zeiten überdauernder Bund. Doch die romantische Ewigkeit endet im Bombenlärm des Krieges.

Bravos für „Die Geschichte zweier Welten“.

Einem Oratorium der Manien gleich
madness & arts: Hommage an Andersen

wenn Dänen Märchen erzählen Deutschlandpremiere ‚Carried by shadows' von Billedspor aus Arhus (DK)

Von Klaus Nelißen / Westfälische Nachrichten, 9.5.06

[...] Die fesselnde Inszenierung im Pumpenhaus lässt sich vielleicht am Besten mit Begriffen aus der Musik beschreiben. Gleich einem Oratorium der Manien und Macken wird hier Andersens Märchen über einen Mann, der seinen Schatten verliert, erzählt. Das Stück besitzt keinen leitenden Dialogfaden, vielmehr eine Dramaturgie der Verschlungenheit von Satzmotiven, die in immer neuen Permutationen rezitiert werden.

Handlungsleitend ist ein 6köpfiger, geradezu wahnwitziger Sprechchor. Er gibt dem Stück das rezitative Element. Jede Figur hat dabei einen eigenen Tick - seien es gestikalische Entgleisungen im Gesicht, nervöse Bewegungen oder hyperventilierendes Stottern. In der Ambivalenz der amüsanten

Zurschaustellung und der nahezu schmerzhaften Überreizung der neurotischen Reaktionen liegt die besondere Spannung, in der der Inhalt des Stückes, die verzweifelte Suche eines Mannes nach seinem Schatten, eingewoben wird. Dabei scheint jede Szene improvisiert und der Spontaneität des jeweiligen Vortragenden anheim gestellt. Wenn eine kleine Frau in Rot nahezu endlos und mit urkomischen Grimassen mit dem Satz „I want to take my life in my shoes“ spielt, sprüht die Szene vor Sprachrythmus, Humor und einer unbändigen Anarchie. Die Satzfetzen erscheinen sinnlos, assoziativ, als wären sie im Alltag einer psychiatrischen Anstalt aufgeschnappt und immer wieder dahingebrabbelt.

Wortlos läuft dagegen der Protagonist hin und her, auf der Suche nach seinem Schatten, symbolisiert durch einen durchsichtigen schwarzen Vorhang. Sein schizophrener Versuch, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, endet darin, dass er kollabiert und reglos zu Boden fällt. Mit dem vermeintlichen Tod des Mannes, atmet die wirre Szene auf, und aus dem Stimmengewirr erhebt sich eine leise Melodie. „Ich habe keine Angst mehr“ entfährt es sanft dem Sprechchor. Plötzlich steht der Mann hinter dem Vorhang und kann seinen Schatten greifen. Bei der ausgelassenen Heiterkeit der Inszenierung, die vom Publikum mit anhaltendem Applaus belohnt wurde, bleibt am Ende aber auch die Gewissheit, das der Mann ohne Schatten nur im Tode ganz bei sich sein konnte. Und die Moral von der Geschicht? Das „madness & arts“ Festival ist unterhaltsam, wirft dabei aber zugleich die zentralen Fragen von Krankheit und Identität auf.

Mit Donnerschlag und Ausrufezeichen
madness & arts: Vom skurrilen Dinner im „Maison de Santé“

Die Leidenschaften haben immer recht und unser Fehler ist nicht, zu viel zu begehren, sondern zu wenig! Theater Thikwa und Theater zum westlichen Stadthirschen aus Berlin (D)

von Alexander Dragon / Westfälische Nachrichten, 10.5.06

Der Gast aus Deutschland ist in ein Tollhaus geraten. Mögen kulturelle Unterschiede auch zu allerlei Irritationen führen - was sich auf diesem Schloss in der Provence abspielt, ist für den jungen Arzt schlicht unerhört. Zwischen dem sich gegenübersitzenden Publikum steht die große Tafel. So sitzt der Zuschauer mittendrin im Speisezimmer des Maison de Santé, der Nervenheilanstalt, in der der deutsche Mediziner sein bisher skurrilstes Dinner erleben wird.

Das „Theater zum westlichen Stadthirschen“ und „Theater Thikwa“ aus Berlin brachten mit dieser Poe-Bearbeitung ein Stück über Sinn und Unsinn diagnostischer Dogmen ins Pumpenhaus. [...] Die Schauspieler poltern vom unglücklichen Liedchen zum wilden Tanz, derweil der staunende Gast immer blasser um die Nase wird. So beendet das Ensemble am Montagabend das „madness & arts“- Festival in Münster mit Donnerschlag und Ausrufezeichen: Die aberwitzige Regie von Werner Gerber gönnte dem Publikum keinen ruhigen Atemzug. Schließlich wurde hier „der wahre Traum der Revolution“ gelebt.

von Johannes Bayer, Schauspieler Sycorax:

Der schauspielerische Höhepunkt war für mich der Abschluss des Festivals mit dem Stück der Berliner Gruppe, schauspielerisch prachtvoll, mit festen Rollen, die keineswegs aufgezwungen waren und so prall voller Leben, dass ich als Zuschauer bald nicht mehr wusste, sind die noch normal und ich verrückt oder umgekehrt oder bitte schön: was ist überhaupt verrückt? Ein furioses Feuerwerk der Lebensfreude, bei dem selbst „normales“ Theater mit Sprechrollen und einzelnen Szenen und durchgehender, vordergründiger Handlung Spaß macht und das übergeordnete Thema, die Grenzen zwischen Normalem und „verrücktem“ Leben zu verschieben, nie abhanden kam.

open-space-project (madness & arts)

ein audiovisuelles Experiment mit Shakespeare open-space-project nach einer Idee von Katarzyna Winska/Opera Buffa aus Warschau (PL)

aus 'radunz blogt' / radunz.net, Theater und Gestaltung

„Hamlet, hast du deine Medizin genommen?“- unter diesem Motto schauen die Zuschauer dem open-space-project zu, werden selbst Teil des Ganzen. Wir alle tragen goldene Königsmasken, genau wie die Spieler/innen.

Zuvor wurden Proben per Video festgehalten, Tonaufnahmen in unterschiedlichen Sprachen gemacht. All das wird Teil der Inszenierung: Videoprojektionen, Text vom Band, das Spiel im Raum und schließlich auch die Zuschauer, jetzt ebenso im Raum anwesend.

Wer hier klassisches Theater erwartet hat, wird sicher enttäuscht. Vielmehr ist es das Spiel mit den Möglichkeiten. Hier spielt niemand Theater, es hat mehr von einem kindlichen darstellenden Spiel, einem kurzen in die Rolle schlüpfen, gepaart mit multimedialen Elementen. Nicht immer kann ich als Außenstehender folgen, manches verschwindet im Chaos. Doch alle Beteiligten sind anwesend:

Mancher in Polen gebliebener, ist als Projektion zu sehen, manch andrer ausgefallener Spieler als Stimme zu hören. Dieses Experiment ist sicher eigenwillig, verfolgt aber einen Arbeits(Spiel)ansatz, mit dem vieles möglich ist.

K.Winska about her performance-concept with German and Polish actors:

”We perform for ”healthy audiences“ with the aim of creating good theatrical spectacles to awaken the interest in the illness and perhaps thanks to better understanding of the mentally ill, comprehend man in general.

In ”Have You Taken Your Medicine Hamlet“, mentally ill patients talk about madness with lines from Shakespeare`s Hamlet, with the aim of drawing attention to a very important aspect of their illness. The revelation experienced by them at the beginning of the sickness, followed by the strong conviction of a mission to be carried out, is taken solely as a hallucination by the surrounding people. It is our aim to explain this state as a spiritual experience. Behind the illusionary chaos which is illustrated symbolically by means of a disco-strobe skull which disperses light, the clear structure and sense of specific human appears.“



Illsutration